Dienstag, 11. August 2015

Panorama-Wanderung im Schnalstal, Kommerz und Tragik in Kurzras

Spiegelung Hochjochferner und Grawand an der Schönen-Aussicht-Hütte
Mehr als 30 Grad Hitze im Tal versprechen angenehme Temperaturen in der Höhe. Kurzras im Schnalstal wäre mit der Schöne-Aussicht-Hütte eine Option, wenn wir die Tour nicht vor einigen Jahren von unserer Must-do-Liste gestrichen hätten.(1) Recherchen zu Wanderoptionen im Hochgebirge in Nähe unserer Unterkunft wecken Interesse an neuen Routen im Schnalstal.(2) Nach der anstrengenden Tour vom Vortag(3) ermöglicht eine Seilbahnfahrt zur Grawand (3.212/3.251 m) eine bequeme Panoramawanderung über die Schöne-Aussicht-Hütte (2.845 m) zurück nach Kurzras.(4)

Totempfahl, Hochjochferner, Finailspitze
Denkmal für Leo Gurschler in Kurzras
Nach ca. 1.400 m Abstieg und nur 200 m Anstieg treffen wir ausgesprochen begeistert in Kurzras ein. Liftanlagen sind in der Zwischenzeit nicht abgeräumt worden, aber ein erweitertes Wegenetz und veränderte Routenführung gestatten meistens ausreichenden Abstand.
Kurzras präsentiert sich so, wie wir es schon immer kennen, ein Schandfleck von Bausünden. Beim Hotel Gurschler werden wir auf ein interessantes Denkmal aufmerksam. Dargestellte Szenen erschließen sich nicht spontan. Hinweise suchen wir vergebens. Nachfolgende Recherchen verschaffen Aufklärung und zeigen, wie sich auch im entlegenen Schnalstal Kommerz und Tragik wechselseitig durchdringen.
Diashow der Fotoserie - Google-Geschichte




Grawandgipfel, 3.251 m, Bergstation der Seilbahn, 3.212 m
Wir entrichten 4 € Parkplatzgebühren und eilen zur Gletscherbahn, die uns zum Preis von 18 € pP in 6 Minuten zur Bergstation auf der Grawand transportiert (3.212 m).
Von der Bergstation der Seilbahn bieten sich 2 kurze Abstecher von jeweils ca. 20 Minuten Dauer (Hin- und Rückweg) an. Nach Süden führt ein ausgesetzter, aber gut präparierter und mit Seilen gesicherter Gratweg zum Gipfel der 3.251 m hohen Grawand. In entgegengesetzter Richtung erschließt der 'Panoramaweg' (eine breite Schottertrasse auf einem Bergrücken) einen spektakulären Aussichtspunkt. Nach Norden blicken wir auf das Hochjoch mit Schöner-Aussicht-Hütte am Hochjochferner und erkennen am Ötztaler Hauptkamm Gipfel von Weißkugel, Innere Quellspitze, Wildspitze. In Richtung Südosten umrahmen Grawand, Schwarze Wand, Finailköpfe, Finailspitze, Similaun das Panorama.




Gletschersee des Hochjochferners, Schöne-Aussicht-Hütte
Der durchgehend markierte und gut gehbare Abstiegsweg in Richtung Schöne-Aussicht-Hütte führt durch Schotter und Geröll des stark geschrumpften Hochjochferners zu einem ca. 500 m tiefer liegendem Gletschersee, von dem der Weg zur Hütte ca. 100 m ansteigt. Nach einstündiger Wanderung erreichen wir die Schöne-Aussicht-Hütte, an der wir rasten.










Schöne-Aussicht-Hütte
Die Route des Rückwegs von der Hütte nach Kurzras verläuft im oberen Teil auf einem höher am Hang neu angelegten Pfad und hält Abstand zu Lift- und Skitrassen in der Talsohle. Nach 1:10 Std. liegen 800 m Abstieg von der Hütte bis Kurzras hinter uns. (2:50 Std. Gesamtgehzeit inkl. beider Abstecher an der Bergstation der Seilbahn.)










 
Kurzhof, Hotel Gurschler, Denkmal für Leo Gurschler
In Kurzras möchten wir uns eine Kapelle beim Hotel Gurschler anschauen und entdecken zwischen Hotel und Kapelle ein uns bisher entgangenes Denkmal.
Figuren zeigen die Handschrift des Schnalstaler Künstlers Martin Rainer.(5) Ein Artikel im Vinschger informiert über die Einweihung eines Denkmals am 1.09.2007, das die Pioniertätigkeit des letzten Kurzras-Bauern Leo Gurschler beim Seilbahnbau würdige. Das von Martin Rainer und seinem Sohn Josef Rainer geschaffene Werk aus Granit und Bronze zeige Szenen des Seilbahnbaus. Das Bauprojekt beobachtet oder überwacht eine Leo Gurschler symbolisierende sitzende Figur mit einer Seilbahnkabine in den Händen.(6)






Denkmal für Leo Gurschler
Dank der Informationen fällt es nicht mehr schwer, das Geschehen um die Person Leo Gurschler und den Seilbahnbau in Kurzras zu rekonstruieren. Großbauer Leo Gurschler, Besitzer des um 1300 erstmals urkundlich erwähnten Kurzhofs in Kurzras, hatte eine Vision vom allmählich aussterbenden Schnalstal als aufblühendes Skigebiet. Kleinere Lifte zogen bereits erfolgreich Ski-Touristen an, aber Leo Gurschler dachte in größeren Dimensionen. Er wollte den Hochjochferner mit einer Seilbahn auf die Grawand für ganzjährigen Skibetrieb erschließen. Es gelang ihm, Kapital für den abenteuerlichen Bau einer Seilbahn aufzubringen, die mit nur einem Stützpfeiler im brüchigen Fels 1200 Höhenmeter bis zur 3.212 m hohen Bergstation unter dem Gipfel der Grawand überwindet. In einer legendären, 11 Tage dauernden halsbrecherischen Aktion fuhr Leo Gurschler persönlich einen Bagger auf die Grawand, weil niemand die Fahrt übernehmen wollte. Nach schwierigem Bauprojekt eröffnete die Schnalstaler Gletscherbahn am 12. Juli 1975 den Betrieb. Leo Gurschler stieg zum ungekrönten König des Schnalstals auf.
Erfolg beflügelt bekanntlich und drängt nach mehr Erfolg. Leo Gurschler dachte in größeren Dimensionen und schob weitere Bauprojekte an. Visionen, Erfolge und unternehmerische Leidenschaft ersetzten bertriebswirtschaftliches Know-how.



Denkmal für Leo Gurschler
Denkmal für Leo Gurschler
Mit der Kapitalausstattung von Finanziers baute er die Umgebung des Kurzhofs zum Skidorf Kurzras aus, das 1977 eröffnete. Übernachtungszahlen schnellen von 11.000 im Jahr 1974 auf 255.000 im Jahr 1981 hoch. Ideen für den weiteren Ausbau des Skitourismus gehen Leo Gurschler nicht aus, aber Augenmaß für realistische Planungen scheint zu fehlen. Leo Gurschler legt sich einen Hubschrauber zu, mit dem er sein Imperium unter Kontrolle hält und prominente Gäst ein- und ausfliegt. Italienische Hochzinspolitik und mangelnde Auslastung von Hotelbetten bewirken nicht ausreichende Kostendeckung. Kredite können nicht mehr im vereinbarten Umfang bedient werden. Der Grundstückswert der Gurschler-Familie reicht zur Besicherung von Krediten nicht mehr aus. Leo Gurschler sitzt auf einem Schuldenberg von umgerechnet 20 Millionen DM und muss im Mai 1982 Konkurs anmelden. Pleitegeier über dem Schnalstal textet die Wochenzeitung 'Die Zeit' in einer Ausgabe vom Juli 1982.

Kapelle zur Heiligen Familie
Denkmal für Leo Gurschler
Der Absturz aus großer Fallhöhe überfordert Leo Gurschler. Im Alter von 36 Jahren begeht er Suizid und hinterlässt neben dem Schuldenberg eine Familie mit 4 Kindern.
Blind und gierig vom schnellen Erfolg haben sich Schnalser und einige weitere Skiregionen verzockt. Wie es weitergeht, ist offen, kommentiert die Wochenzeitung 'Die Zeit' im Februar 1984: Warten auf den Aufschwung 
Die Familie versucht das öffentliche Bild geradezurücken und beschreibt auf der Webseite des Piccolo Hotel Gurschler ihre Sicht des Geschehens: Informationen über Leo Gurschler und das Sportdorf Kurzras (auf der Hotel-Webseite verlinktes PDF-Dokument).





Anmerkungen
  • (1) Über viele Jahre liebten wir den Aufstieg von Kurzras im Schnalstal von etwas mehr als 2.000 m Höhe zur Schöne-Aussicht-Hütte in 2.845 m hoher Panoramalage am Hochjoch (ein Übergang vom südtiroler Schnalstals in das tiroler Venter Tal). Vor dem Erreichen hochalpiner Region vergletscherter 3000-Tausender in der Umgebung der Schöne-Aussicht-Hütte war schon vor 30 Jahren zunächst in Kurzras eine dem Ski-Tourismus geopferte Landschaft zu überwinden. In Folgejahren mussten wir zur Kenntnis nehmen, wie immer mehr Liftanlagen in die Landschaft geklotzt wurden. Das war nicht schön, auch nicht unvermeidbar, aber soweit machbar. Als sich dann auch noch die Schöne-Aussicht-Hütte dem Ski-Tourismus zuwendete und als 'Location' hipper Spaß-Kultur anbiederte, reichte es uns. Wanderrouten auf Ski-Trassen entlang Liftmasten sind für uns No-go-Areas. (Post vom 20.07.2012)
  • (2) Mit dem Trend zu steigenden Temperaturen schrumpfen die meisten Alpengletscher massiv. Sommerski ist im Schnalstal auch mit vielen Schneekanonen nicht mehr möglich. Auf der Suche nach Kompensation rückt mittlerweile boomender Wandertourismus in den Fokus. Um die Infrastruktur von Gastronomie, Hotels, Seilbahnen, Shops etc. im Sommer mit Wander-Tourismus auszulasten, muss die Region für Wanderer attraktiver werden. Der 'Ötzi-Hype' treibt zusätzlich Publikum in die Region des Schnalstal. Eine 1991 gefundene und als Ötzi bezeichnete Gletschermumie erzählt uns die Geschichte eines Mannes, der vor ca. 5000 Jahre vermutlich aus dem Schnalstal auf der Flucht zum Ötztaler Hauptkamm aufgestiegen ist, wo er schließlich am Tisenjoch umgebracht wurde.
  • (3) Post vom 5./10.08.2015
  • (4) Routenbeschreibung: Berglouter: Grawandspitze - Schutzhütte Schöne Aussicht
  • (5) Martin Rainers beeindruckende Arbeiten kennen wir vom Dorfbrunnen im Karthaus sowie von einer Wechselausstellung in der Kartause: Post vom 9.08.2015, Post vom 25.08.2013
  • (6) Der Vinschger 2007: Denkmal in Erinnerung an Leo Gurschler

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